Arbeitnehmerfreizügigkeit
Artikel des britischen Premierministers David Cameron in der Financial Times vom 27. November 2013
Übersetzung
Am 1. Januar werden die Rumänen und Bulgaren das gleiche Recht haben in Großbritannien zu arbeiten wie andere EU-Bürger. Ich weiß, dass viele Menschen sich über die Auswirkungen, die das auf unser Land haben könnte, große Sorgen machen. Ich teile diese Sorgen und möchte erläutern, wie wir darauf reagieren werden.
Zunächst zu den Hintergründen. Seit dem Fall der Berliner Mauer hat sich Großbritannien immer dafür stark gemacht, die Nationen, die ein Schattendasein hinter dem Eisernen Vorhang führten, in die NATO und die Europäische Union aufzunehmen. Das ist für den Wohlstand und die Sicherheit dieser Länder – und auch unseres Landes – wichtig.
Großbritannien ist auch einer der stärksten Befürworter des Binnenmarktes. Er ermöglicht uns den freien Handel auf dem größten und reichsten Markt der Welt. Wir haben ein Interesse daran, dass dieser Markt wächst und dass unsere Bürger die Chance haben, in anderen europäischen Ländern zu arbeiten.
Aber in den letzten Jahren ist etwas schiefgelaufen. Seit 2004 sind wir Zeuge der größten Migration, die in Europa in Friedenszeiten stattgefunden hat. Die Folge für Großbritannien ist , dass eine Million Menschen aus Osteuropa jetzt bei uns leben.
Welche Lehren sollten wir daraus ziehen?
Da gibt es zunächst die Frage der Freizügigkeitsbeschränkungen während der Übergangszeit. 2004 beschloss die Labour-Regierung, dass Großbritannien auf Übergangsbeschränkungen für die neuen EU-Mitglieder verzichten sollte. Sie hätte festlegen können, dass die neuen EU-Bürger erst nach sieben Jahren zu uns kommen und bei uns arbeiten könnten. Labour lehnte das ab – fast als einziges Land in Europa. Das war ein monumentaler Fehler.
Dann gibt es das Problem der Einkommensunterschiede. Dass so viele Menschen hierhergekommen sind, hat angesichts eines Pro-Kopf-Einkommens von rund der Hälfte des EU-Durchschnitts kaum jemanden überrascht. Dennoch hatte Labour, als Rumänien und Bulgarien beitraten, nichts daraus gelernt. Damals hätte man sich mit der schwierigen Frage befassen müssen, wann neuen Mitgliedern der volle Zugang zu den Arbeitsmärkten der anderen Länder gewährt werden sollte, aber Labour wich dieser Frage aus. Deshalb hat die jetzige Regierung die Übergangsbeschränkungen für Bulgarien und Rumänien von fünf auf die maximal möglichen sieben Jahre verlängert.
Die andere Lehre, die wir daraus ziehen können, ist, dass Versäumnisse in der Zuwanderungspolitik viel mit Sozial- und Bildungspolitik zu tun haben. Wenn Arbeiten sich nicht lohnt, oder wenn es britischen Bürgern an den nötigen Qualifikationen fehlt, entsteht eine riesige Lücke auf unserem Arbeitsmarkt, die von Ausländern gefüllt werden kann. Man kann es den Menschen nicht übel nehmen, wenn sie hierherkommen und fleißig arbeiten wollen; aber eigentlich müssen wir unsere eigenen Leute ausbilden, damit sie diese Lücken füllen können. Genau das tut die Regierung – mit einem Rekordangebot an Lehrstellen, mit strengen Anforderungen an Schulen, mit einem Sozialsystem, welches Arbeiten fördert.
Am meisten interessieren sich die Menschen natürlich dafür, was wir jetzt tun. Zusätzlich zum Einwanderungsgesetz ergreifen wir jetzt eine Reihe weiterer Maßnahmen.
Wir ändern die Regeln dahingehend, dass niemand in unser Land kommen und erwarten kann, sofort Arbeitslosengeld zu beziehen; für die ersten drei Monate zahlen wir keine Leistungen. Wenn ein EU-Bürger nach drei Monaten Leistungen benötigt, werden wir diese nicht mehr unbegrenzt zahlen. Der Anspruch wird auf maximal sechs Monate begrenzt, es sei denn, der Betreffende kann nachweisen, dass er echte Chancen auf Beschäftigung hat.
Außerdem verschärfen wir die Voraussetzungen, unter denen Zuwanderer Leistungen in Anspruch nehmen können. Hierzu gehört der Nachweis eines bestimmten Mindesteinkommens als Beleg dafür, dass jemand arbeitet. Wenn die Voraussetzungen nicht erfüllt werden, entfällt der Anspruch auf Leistungen wie Einkommensunterstützung. Neue Arbeitssuchende aus der EU haben keinen Anspruch auf Wohngeld.
Menschen, die hier keiner Arbeit nachgehen – betteln oder auf der Straße übernachten – werden abgeschoben. Sie bekommen dann ein Wiedereinreiseverbot für 12 Monate, sofern sie keinen guten Grund haben hier zu sein, zum Beispiel einen Arbeitsplatz.
Außerdem werden wir streng gegen Arbeitgeber vorgehen, die weniger als den Mindestlohn zahlen. Sie werden den Preis dafür zahlen müssen – ein Bußgeld von bis zu GBP 20.000 pro unterbezahltem Beschäftigten – das ist mehr als viermal so viel wie heute.
Großbritannien steht mit diesen Maßnahmen nicht allein da. Andere Länder wie die Niederlande verlangen als Voraussetzung für Leistungen wie z.B. Arbeitslosengeld schon jetzt einen Aufenthalt von drei Monaten.
All das sind Maßnahmen, die wir im Rahmen der von der Labour-Regierung unterzeichneten Verträge treffen können. Aber lassen Sie mich zum Schluss auch noch die Pläne darlegen, mit denen meine Partei solche Probleme in Zukunft vermeiden will.
Wie ich in meiner Bloomberg-Rede Anfang des Jahres gesagt habe, ist die EU heute eine ganz andere als vor 30 Jahren. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass die Freizügigkeit große Bevölkerungsbewegungen auslöst, die durch die riesigen Einkommensunterschiede verursacht werden. Hierdurch werden Talente aus Ländern abgezogen, welche ihre besten Leute eigentlich behalten sollten, und Belastungen für die Gesellschaft verursacht.
Es ist Zeit für eine neue Regelung, die anerkennt, dass die Freizügigkeit ein zentrales Prinzip der EU ist, dass es aber keine völlig uneingeschränkte Freizügigkeit sein kann.
Großbritannien ist nicht das einzige Land, das die Arbeitnehmerfreizügigkeit als eingeschränktes Recht betrachtet: Auch Innenminister aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden haben das der Kommission deutlich gemacht.
Deshalb wird Großbritannien im Rahmen seiner Reformpläne für die EU jetzt mit anderen zusammenarbeiten, um wieder mehr Vernunft in das Konzept der Freizügigkeit zu bringen.
Und das gleiche müssen wir in der Sozialpolitik tun. Freizügigkeit sollte beispielsweise nicht heißen, Kindergeld zu exportieren – dieses Problem möchte ich gemeinsam mit unseren europäischen Partnern anpacken.
Neue Staaten aufzunehmen und ihnen Frieden und Wohlstand zu verschaffen, ist nach wie vor eine der größten Stärken der EU. Es werden jetzt viele Jahre, vielleicht ein Jahrzehnt, ins Land gehen, bis wieder einmal ein Staat beitritt. Das kann dann nicht zu den gleichen Bedingungen geschehen wie bisher. In Zukunft müssen wir neue Regelungen vorsehen, die den vollen Zugang zu den Arbeitsmärkten aufschieben, bis wir sicher sein können, dass keine großen Migrationsströme ausgelöst werden.
Wie Institutionen wie z.B. Demos dargelegt haben, kommen hierfür verschiedene Möglichkeiten in Frage. Eine wäre die Bedingung, dass das Pro-Kopf-BIP eines neuen Mitglieds einen bestimmten Prozentsatz des EU-Durchschnitts ausmachen müsste, bevor die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt würde. Eine andere wäre ein größerer nationaler Ermessensspielraum, so dass die einzelnen Mitgliedstaaten den Zustrom von Migranten aus EU-Staaten begrenzen könnten, wenn er in einem einzigen Jahr einen bestimmten Umfang erreichen würde. Als weitere Möglichkeit könnten die Lohnunterschiede zwischen neuen und alten Mitgliedern geprüft werden. Sicher haben auch andere Länder Ideen.
Eines steht jedoch fest: die EU muss sich ändern, wenn sie das Vertrauen ihrer Bürger behalten will. Ich freue mich darauf, mit anderen reformwilligen Ländern zusammenzuarbeiten – und die Frage nach unserer Zukunft in Europa in einem Referendum zu stellen. Wenn ich nach der nächsten Wahl Premierminister bin, wird das britische Volk zu Wort kommen.