Rede von Premierminister Johnson bei der Münchner Sicherheitskonferenz: 19. Februar 2021
Rede des britischen Premierministers Boris Johnson bei der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2021.
Übersetzung
Es ist inzwischen üblich, bei Anlässen wie diesem aufzutauchen und unheilvoll zu verkünden, dass der Westen im endgültigen Niedergang begriffen, das atlantische Bündnis zerbrochen, die NATO in Gefahr ist, und alles, was uns lieb und teuer ist, in Vergessenheit zu geraten droht.
Und diese Branche des Pessimismus hatte in letzter Zeit Hochkonjunktur, vielleicht sogar in München.
Ohne die Herausforderungen und Gefahren, die uns die Pandemie aufzwingt, herunterspielen zu wollen, möchte ich bei allem Respekt darauf hinweisen, dass die Schwarzmalerei übertrieben wurde und wir einen Wendepunkt erreicht haben, und dass die Länder, die wir als „Westen“ bezeichnen, sich wieder zusammentun und ihre ungeheure Stärke und Kompetenz bündeln – zum Nutzen von uns allen.
Wie Sie vorhin gesehen und gehört haben, hat sich Amerika als Anführer der freien Welt vorbehaltlos zurückgemeldet, und das sind fantastische Neuigkeiten.
Dabei ist es für unsere amerikanischen Freunde wichtig zu wissen, dass ihre Verbündeten auf dieser Seite des Atlantiks willens und fähig sind, die mit der Bewältigung der schwierigsten Probleme der Welt verbundenen Risiken und Lasten zu teilen.
Dafür ist Global Britain da, und genau dafür setzt Global Britain sich ein.
Ich freue mich berichten zu können, dass ich eben diese Bereitschaft bei meinen G7-Kolleginnen und -Kollegen vorgefunden habe, als ich heute Morgen den Vorsitz bei einer virtuellen Konferenz führte. Die gemeinsamen Ziele der britischen G7-Präsidentschaft bestehen darin, der Welt zu einem besseren und einem grüneren Wiederaufschwung nach der Pandemie zu verhelfen und das Risiko zu minimieren, dass sich eine solche Katastrophe wiederholt.
Wir alle müssen die Lehren aus einer Erfahrung ziehen, die niemand von uns ein zweites Mal machen möchte.
Auf der letzten UN-Vollversammlung habe ich einen Fünf-Punkte-Plan zum Schutz der Welt vor künftigen Pandemien vorgelegt, und heute hat die G7 vereinbart, in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation einen Vertrag zur Pandemievorsorge zu konzipieren, in dem festgeschrieben würde, welche Maßnahmen die Länder ergreifen müssen, damit es nicht noch einmal zu so etwas wie Covid kommt.
Ich beabsichtige, meine Kollegen Regierungschefs, Wissenschaftler und internationale Organisationen für eine kollektive Verteidigung gegen den nächsten Krankheitserreger zu gewinnen, gerade so, wie wir uns gegen militärische Bedrohungen zusammenschließen.
Internationale Wissenschaftler haben heroische Anstrengungen unternommen und in gerade einmal 300 Tagen sichere und wirksame Impfstoffe gegen Covid entwickelt. Diesen Zeitraum sollten wir künftig noch verkürzen: indem wir unsere Ressourcen bündeln, sollten wir Impfstoffe gegen neu auftretende Krankheiten möglichst in 100 Tagen entwickeln können.
Selbst in den ersten Wochen der Pandemie haben wir in Großbritannien, wie ich hoffe, der Versuchung eines “sauve qui peut” widerstanden und versucht, die Flamme der globalen Zusammenarbeit am Leben zu erhalten.
Wir haben die globale Allianz COVAX mit auf den Weg gebracht, die die Versorgung der Entwicklungsländer mit Covid-Impfstoffen gewährleisten soll. Großbritannien gehört inzwischen zu den größten Gebern von COVAX, wobei das Ziel ist, eine Milliarde Dosen an 92 Nationen zu liefern, und wir werden auch den größten Teil der Überschüsse aus unserem nationalen Impfprogramm weitergeben.
Als die Universität Oxford und AstraZeneca mit ihrer bedeutenden Arbeit begannen, war ihr ausdrückliches Ziel die Entwicklung eines Impfstoffs, der preiswert zu beschaffen und leicht zu lagern wäre, damit er in allen Ländern schnell verabreicht werden könnte.
Für unseren Schutz ist es auch wichtig, dass wir die Mutationen des Virus nachverfolgen, und fast die Hälfte aller weltweit durchgeführten Genomsequenzierungen möglicher Coronavirus-Varianten fanden in Großbritannien statt.
Jetzt gilt es unser vereintes Wissen zu nutzen, um mit Hilfe eines weltweiten Netzwerks von Pandemie-Überwachungszentren ein Frühwarnsystem für den nächsten Krankheitserreger einzurichten, und Großbritannien möchte dies gemeinsam mit der WHO und seinen Freunden bewerkstelligen.
Wenn aus dieser Tragödie überhaupt etwas Gutes hervorgehen kann, dann ist das zumindest die Chance auf einen globalen Wiederaufbau auf neuen, grünen Fundamenten, damit die Menschheit zu Wohlstand gelangen kann, ohne die Erde zu gefährden.
Zu diesem Zweck wird Großbritannien, wie Sie gerade von John Kerry gehört haben, im November die COP-26 in Glasgow ausrichten, und ich freue mich, dass Amerika unter der Führung von Präsident Biden dem Pariser Abkommen wieder beigetreten ist.
Großbritannien strebt an, so viele Länder wie möglich für das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu gewinnen.
Wir waren die erste Industrienation, die sich dieses Ziel gesetzt hat, und wir haben es rechtlich verankert und einen Plan für eine grüne industrielle Revolution erarbeitet, in dem wir zeigen, wie wir dieses Ziel erreichen werden. Ich hoffe nun, dass andere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen werden.
Aber wir können die globalen Probleme nur dann gemeinsam mit unseren Freunden anpacken und Großbritannien mehr Einfluss in der Welt verschaffen, wenn das Vereinigte Königreich selbst und seine Bürger und Bürgerinnen in Sicherheit sind, auch vor der terroristischen Bedrohung, der wir alle ausgesetzt sind.
Unser Integrated Review der Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik, der nächsten Monat veröffentlicht wird, fußt auf der Überzeugung, dass der Erfolg des globalen Britanniens von der Sicherheit unseres Heimatlandes und der Stabilität des euro-atlantischen Raums abhängt.
Während der Klimawandel und Pandemien eher stille, heimtückische Bedrohungen sind, versuchen feindliche Staaten unserer Bevölkerung womöglich ganz direkten und offensichtlichen Schaden zuzufügen, wie es der russische Staat mit dreister Rücksichtslosigkeit vor drei Jahren in Salisbury getan hat. Dabei stieß er allerdings auf den unverrückbaren Felsen der transatlantischen Solidarität, Sanktionen und koordinierte Ausweisungen von Diplomaten, ein herausragender Akt kollektiver Sicherheitspolitik, für den ich unseren Freunden nochmals danke.
Wenn wir unsere Sicherheit gewährleisten wollen, müssen unsere Demokratien ihre Fähigkeiten ausbauen, um einer Welt gerecht zu werden, in dem ein immer schärferer Wettbewerb herrscht.
Und genau aus diesem Grund, damit wir die Sicherheit unserer Bevölkerung garantieren können, indem wir unsere Verpflichtungen gegenüber der NATO erfüllen und Großbritannien mehr globalen Einfluss verschaffen, habe ich beschlossen, zur Verstärkung unserer Streitkräfte den Verteidigungshaushalt um den größten Betrag seit dem Kalten Krieg zu erhöhen.
Die Verteidigungsausgaben des Vereinigten Königreichs werden im Laufe der nächsten vier Jahre um 24 Mrd. £ steigen und damit das Ziel der NATO, 2 Prozent des BIP in Verteidigung zu investieren, noch übertreffen. So sorgen wir dafür, dass wir weiterhin das Land mit dem größten Verteidigungsetat in Europa sind und innerhalb der NATO an zweiter Stelle hinter den USA stehen.
Wir werden vorrangig in neue Technologien investieren, die die Kriegsführung revolutionieren werden – künstliche Intelligenz, Drohnen, Energiewaffen und vieles mehr – sodass wir Seite an Seite mit unseren Verbündeten stehen, um jedweden Gegner abzuwehren und den Frieden zu wahren.
Dieses Jahr wird der neue Flugzeugträger der Royal Navy, die HMS Queen Elizabeth, zu ihrer Jungfernfahrt aufbrechen, 20 000 Seemeilen durch den Indopazifik und zurück.
Auf ihrem Flugdeck wird sich eine Staffel von F35-Kampfflugzeugen des US Marine Corps befinden; unter ihren Geleitschiffen wird ein amerikanischer Zerstörer sein, ein Zeichen für die enge Zusammenarbeit zwischen britischen und amerikanischen Streitkräften auf der ganzen Welt.
Investitionen in neue Ausrüstung sind jedoch kein Selbstzweck. Ziel der militärischen Mittel ist es, die Diplomatie zu stärken und die Erfolgschancen dafür zu maximieren.
Wir möchten nicht in einer Welt der unkontrollierten Konkurrenzkämpfe leben, einer Welt der Abkapselung, voller Hindernisse, die vernünftiger Zusammenarbeit und Weltwirtschaftswachstum im Wege stehen. Auch geht es uns nicht nur um Handel allein: Ich hoffe, dass das Vereinigte Königreich durch sein Vorgehen zeigen konnte, dass wir nicht nur unsere Interessen, sondern auch unsere Werte verteidigen werden.
Durch den Austritt aus der Europäischen Union haben wir wieder die Souveränität über entscheidende Hebel in der Außenpolitik erlangt.
Zum ersten Mal in fast 50 Jahren können wir nun unabhängige nationale Sanktionen verhängen, was Großbritannien zu schnellem und entschiedenem Handeln befähigt. Unsere erste Entscheidung war es, ein Magnitsky-Regime einzurichten, das Personen bestraft, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Großbritannien war in der Folge das erste europäische Land, das nach den gestohlenen Wahlen in Belarus führende Köpfe mit Sanktionen belegte. Insgesamt haben wir nun Sanktionen gegen über 50 Personen verhängt, die gegen die Menschenrechte verstoßen haben, u.a. in Russland, Myanmar und Simbabwe.
Wir haben uns konsequent gegen Chinas Repression der Uiguren in der Xinjiang-Provinz ausgesprochen – und das werden wir weiterhin tun. Wir haben neue Maßnahmen eingeleitet um dafür zu sorgen, dass die Lieferketten für britische Unternehmen nicht durch die Verstöße in Xinjiang belastet werden. Nach dem Vertragsbruch Chinas und dem neuen repressiven Sicherheitsgesetz für Hongkong ermöglichte das Vereinigte Königreich fast drei Millionen Menschen in diesem Gebiet einen Weg zur Erlangung der britischen Staatsangehörigkeit. Wir haben schnell und gern gehandelt – mit parteiübergreifender Unterstützung – um den Menschen in Hongkong die Treue zu halten.
Nun, da wir die EU verlassen haben, hat unser Parlament mehr Mitspracherecht bei der Außenpolitik und das hat die Entschlossenheit unseres Landes, Gutes in der Welt zu tun, nur noch verstärkt.
Großbritannien arbeitet Seite an Seite mit Frankreich, Deutschland und den USA in einer transatlantischen Vierergruppe zusammen, um die dringendsten Sicherheitsfragen zu bewältigen, u. a. zum Thema Iran.
Ich nehme eine neue Entschlossenheit unter unseren europäischen Freunden und Verbündeten wahr, sich zusammenzuschließen und gemeinsam und entschlossen vorzugehen, und nach dem versuchten Mord auf Alexej Nawalny sind wir Zeuge dieser Haltung geworden, als dieser sich in einem Krankenhaus in Berlin erholte.
Während die NATO in einigen Gebieten abgeschrieben wurde, begann der Supertanker der europäischen Verteidigungsausgaben sich langsam zu drehen. Und obwohl sein heikles Manöver auf hoher See bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist und das Schiff seinen Kurs noch ein gutes Stück weiter ändern muss, steht doch fest, dass die Verteidigungsausgaben der NATO – ohne die der USA – seit dem Wales-Gipfel 2014 um 190 Mrd. $ gestiegen sind.
Als unsere Verbündeten an der Ostflanke sich ihrer Sicherheit zu vergewissern suchten, antwortete die NATO mit dem Einsatz einer multinationalen Einheit in Polen und in den baltischen Staaten. Das Vereinigte Königreich ist stolz, den größten Einzelbeitrag geleistet zu haben, die Kampfgruppe in Estland anzuführen und zeigen zu können, dass wir unser Wort halten, wenn wir sagen, dass unsere Verpflichtung zur europäischen Sicherheit bedingungslos und unverändert ist.
Ich glaube, Europa erkennt zunehmend an, dass wir mit unseren amerikanischen Freunden zusammenarbeiten müssen, um die Weitsicht und Führungsstärke, den Abenteuergeist und die transatlantische Einheit wiederzuerlangen, die unsere beiden Kontinente überhaupt erst großgemacht haben.
Um uns herum entwickelt sich eine neue Welt, Handelsstrukturen ändern sich, das globale Gravitationszentrum verschiebt sich gen Osten, die technologische Revolution schreitet mit rasender Geschwindigkeit voran. Aber niemand sollte sich vor diesen Veränderungen fürchten oder sich über sie grämen.
Freiheitliche Gesellschaften sind verbunden durch ihren Glauben an die liberale Demokratie, das Rechtsstaatsprinzip und freie Märkte, die zusammen die Dreieinigkeit menschlichen Fortschritts darstellen.
Freie Länder – viele von ihnen befinden sich übrigens weit jenseits des geografischen „Westens“ – verfügen über eine grenzenlose und inhärente Fähigkeit, die Talente und den Unternehmergeist ihrer Bevölkerung zu fördern, um Veränderungen zu meistern und sich entsprechend anzupassen.
Es ist kein Zufall, dass von den 10 innovativsten Ländern weltweit – gelistet im Global Innovation Index 2020 – bis auf ein Land allesamt liberale Demokratien sind.
Es gibt keinen Grund, warum unsere Länder 2030 – oder gar 2050 – nicht stärker und sicherer sein sollten als heute, vorausgesetzt, wir verteilen die Lasten, treten erfolgreich in Wettbewerb und suchen uns neue Freunde und Partner, wo auch immer wir sie finden mögen. Ich habe Südkorea, Australien und Indien neben führenden internationalen Organisationen dazu eingeladen, am nächsten G7-Gipfel als Gäste teilzunehmen.
Lassen Sie uns jedweder Versuchung widerstehen, die Veränderungen um uns herum zu beklagen.
Lassen Sie uns eine Koalition für Offenheit und Innovation bilden und über bestehende Allianzen und geografische Grenzen hinauswachsen, stolz auf unsere Geschichte aber frei von der Versuchung, die Uhren zurückzudrehen. Lassen Sie uns das Potential offener Gesellschaften nutzen, um in einer Ära des neuen Wettbewerbs erfolgreich zu sein.
Lassen Sie uns respektvoll den Pessimismus aus dem Weg räumen, der zuweilen unseren Konferenzen beiwohnte.
Amerika und Europa, Seite an Seite, sind in der Lage, die natürlichen Vorzüge freier Nationen erneut unter Beweis zu stellen und erfolgreich über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden.